Sophisten: Aufklärer oder Wortverdreher

Sophisten: Aufklärer oder Wortverdreher
Sophisten: Aufklärer oder Wortverdreher
 
In der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. entwickelte sich eine Strömung, deren Beurteilung unter Philosophiehistorikern äußerst ambivalent ausfällt: die Sophistik. Die Sophisten waren Wanderlehrer, die in den Zentren Griechenlands gegen Bezahlung öffentlich auftraten und die Söhne der wohlhabenderen Bürger unterrichteten. Herausragende Persönlichkeiten unter den Sophisten waren Protagoras von Abdera und Gorgias von Leontinoi auf Sizilien. Das gängige Urteil über die Sophisten dürfte von Platon herrühren, der in seinen frühen Schriften großen Wert darauf legte, die Philosophie von der Sophistik abzugrenzen und letztere als leerlaufende Wortverdreherei darzustellen, die mit allen Mitteln versuche, die Zuhörer zu hintergehen und ihnen nach Belieben Scheinwissen einzupflanzen. Andererseits trugen die Sophisten in mindestens zweierlei Hinsicht zu einer Wende in der Entwicklung der griechischen Philosophie bei. Sie leiteten eine Entwicklung ein, innerhalb derer auch das Auftreten des Sokrates verstanden werden muss: sie lenkten die Aufmerksamkeit weg von den Spekulationen über Natur und Kosmos der vorsokratischen Epoche hin zu Fragen der individuellen Lebensgestaltung und zum Verhältnis von Individuum und Staat. Außerdem gelang es ihnen, den elitären Wahrheits- und Wissensanspruch der älteren Vorsokratiker infrage zu stellen und so die oft als unantastbar dargestellten Einsichten der bisherigen Weisen einer breiten Diskussion auszusetzen.
 
Das von den Sophisten verbreitete Selbstverständnis findet seinen vielleicht deutlichsten Ausdruck bei Protagoras: »Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der Seienden, dass sie sind, der Nicht-Seienden, dass sie nicht sind« (»Homo-mensura-Satz«; Fragment 1). Damit dürfte gemeint sein, dass, wie Platon (»Theaitetos« 152b) erläutert, etwa dem Frierenden der Wind kalt ist, dem Nicht-Frierenden hingegen nicht. Über den Urteilenden hinaus gibt es keine Maßstäbe, die eine Objektivität begründen oder die Wahrheit eines solchen Urteils überprüfen könnten. An die Stelle von Glaubenssätzen, die durch die Tradition verbürgt sind, und an die Stelle von philosophischen Thesen, deren Beurteilung dem durchschnittlichen Menschen nicht obliegt, tritt somit die Auffassung, dass alles, was einem Menschen (Subjekt) erscheint, genau so tatsächlich wahr ist (Subjektivismus), oder zumindest für den, dem es so erscheint, wahr ist (Relativismus).
 
Diese subjektivistisch-relativistische Tendenz scheint den theoretischen Hintergrund für die zentrale Rolle der Argumentation und der Rhetorik innerhalb der Sophistik abzugeben. Wenn es nämlich keine objektiv begründbaren Wahrheiten gibt, die darauf harren, entdeckt zu werden, dann ist jede Annahme gerade so gut wie die Argumente, die jemand zu ihren Gunsten anführt. Alles kann daher kontrovers diskutiert werden, und zu jedem Argument gibt es Gegenargumente, wie ein - wohl ebenfalls von Protagoras in Umlauf gebrachter - Slogan unterstellt. Vor diesem Hintergrund macht in der Sophistik das Schlagwort von der »Gewalt der Rede« die Runde, und Gorgias charakterisierte die Rede sogar als einen »unangefochtenen Machthaber«. Die zentrale Bedeutung der rhetorischen Argumentation wiederum lenkte das Interesse auf die Sprache und auf Fragen der Sprachphilosophie. Das sprachphilosophische Instrumentarium wurde genutzt, um jene paradoxen Thesen zu untermauern, die bald als Beispiele sophistischer Wortverdreherei angesehen wurden und die den Sophisten wiederum dazu dienten, gegnerische Ansprüche auf eine objektive Wahrheit zurückzuweisen.
 
Durch Platons frühere Dialoge hat sich im Bildungsbewusstsein vor allem die Berufung auf ein Recht des Stärkeren als das vorherrschende Motiv der sophistischen Bewegung festgesetzt. Gestalten wie der Sophist Kallikles, der durch die Beobachtung natürlicher Vorgänge ein solches Recht des Stärkeren begründen zu können glaubte (so in Platons »Gorgias«), oder Thrasymachos, der in Platons Dialog »Politeia« entschieden dafür eintritt, dass sich die Ungerechtigkeit und nicht die Gerechtigkeit für den einzelnen auszahlt, sind aber in einem weiteren Rahmen kritischer Auseinandersetzung mit konventioneller Moral zu sehen. Das wohl wichtigste Instrument der sophistischen Moralkritik war der Gegensatz von Konvention und Natur. Der herkömmlichen Moral wurde vorgehalten, entgegen der von ihr beanspruchten Autorität »nur« konventionell zu sein; was aber konventionell ist, so die Voraussetzung, könnte genauso gut anders sein.
 
Aus dieser Beliebigkeit glaubte man ableiten zu können, dass, wer sich auf die herkömmliche Moral beruft, entweder unheilbar naiv ist oder in Wahrheit andere, nämlich eigennützige Ziele verfolgt. Die natürlichen Verhältnisse dagegen seien der konventionellen Verfügbarkeit entzogen und böten sich daher als Vorbild für eine nicht-beliebige Einrichtung der Verhältnisse an. Diese Berufung auf die Natur muss aber keineswegs auf ein Recht des Stärkeren führen, wie etwa die Sophisten Antiphon und Hippias zeigen, die gegen das Herkommen und unter Berufung auf die Natur für die Gleichheit von Hellenen und Barbaren (= Nicht-Griechen) argumentieren: »Atmen wir doch alle durch Mund und Nase in die Luft aus, und essen wir doch alle mithilfe der Hände. ..« (Fragment 44). Die Kritik an konventioneller Moral ging, wie auch sonst oft, einher mit einer Kritik am herkömmlichen Götterglauben.
 
Dr. Christof Rapp
 
 
Graeser, Andreas: Sophistik und Sokratik, Plato und Aristoteles. München 21993.
 Rapp, Christof: Die Vorsokratiker. München 1997.
 Ricken, Friedo: Philosophie der Antike. Stuttgart u. a. 21993.

Universal-Lexikon. 2012.

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